- Käffchen mit
„Zuversicht ist Arbeit.“
In Zeiten von Green Fatigue, von Multikrisen, German Angst und dem Blasen allgemeinen Trübsinns erscheint uns Zuversicht so wichtig wie nie – und so selten. Aber woher nehmen?

Barbara Beiertz
Warum morgens aufstehen?
Heute starten wir eine kleine Serie von Kaffee-Gesprächen, die Antworten auf diese Frage sucht. Woher nehmen Autoren, Künstler ihren Mut, ihren Glauben an das Gelingen ihres Werks? Warum engagieren sich Leute tagtäglich für Klimaschutz, für Bioanbau, für eine bessere Umwelt – trotz aller Widrigkeiten? Wieso beginnt jemand einen Studiengang, wohlwissend, dass man damit kein Geld verdienen kann? Woher kommt der Glaube an eine Start-up-Idee? Warum morgens aufstehen?
Und was hat das alles mit Mount Hagen zu tun? Wir wollen etwas bewirken. Wollen über unseren Bio-Fairtrade-Kaffeetassenrand hinaus die Menschen inspirieren. Zu neuen Perspektiven, Gedanken, Ideen und der Hoffnung, dass jeder Einzelne eben doch etwas bewegen kann. Was, wenn es funktioniert?
Unser erstes „Käffchen mit…“ fand – passend zu Katharina Hagenas neuem Buch „Flusslinien“ – an der Elbe statt. Fast hätten uns Wind und Wetter einen Strich durch die Aufnahme gemacht, aber dank kleinem, gemütlichem Büro als Zufluchtsort und Take-away-Bechern konnten wir dann doch mit dampfendem Kaffee unsere Gedanken um die Zuversicht herummäandern lassen.
„Ich bin eins nach dem anderen.“
Barbara Beiertz: Katharina, ich habe kurz vor unserem Gespräch noch ein bisschen mehr über dich recherchiert und bin schwerst beeindruckt, was du alles machst und gemacht hast: Du hast Anglistik und Germanistik in Marburg, London und Freiburg studiert. Du hast über den „Ulysses“ von James Joyce promoviert. Du hast eins der erfolgreichsten Romandebuts, „Der Geschmack von Apfelkernen“, das auch verfilmt worden ist, geschrieben. Etliche andere Bücher. Romane, Essays, wissenschaftliche Texte.
Du bist Schirmherrin der Klinik-Clowns Hamburg. Bist im Pen Club Berlin und Deutschland. Und du hast mit Stefanie Clemen die „Ulysses“-Daumenkinos erfunden. Du hast zwei Kinder, trainierst mehrfach in der Woche Pilates, läufst gefühlt jeden Tag zwei Stunden an der Elbe lang. Dieses Jahr hast du ein neues, sehr erfolgreiches Buch veröffentlicht: „Flusslinien“. Und dann bist du auch noch die ganze Zeit auf Lesereise unterwegs. Wie schaffst du das alles?
Katharina Hagena: Das klingt jetzt so, als würde ich das alles auf einmal machen, aber das stimmt nicht. Ich bin überhaupt nicht gut im Multitasking. Ich kann wirklich immer nur eine Sache nach der anderen machen und muss aufhören, Kaugummi zu kauen, bevor ich über die Straße gehe.
Ich habe auch nicht das Gefühl, dass ich viel mache. Andere machen viel mehr. Ich finde eher, dass ich ein privilegiertes Leben führe, dass ich jeden Tag an der Elbe rumlatschen kann, wann immer es mir gefällt. Andere Kolleg:innen müssen noch Zeitungsartikel schreiben, damit sie ihre Arbeit an den Romanen finanzieren können. Das klingt zwar alles viel, aber ich bin auch schon sehr alt. (Großes Gelächter. Katharina ist gerade mal 57 Jahre alt. Anm. d. Red.)
B: Was die meisten Menschen interessiert, wenn sie die Chance haben, mit einem Autor zusammenzusitzen: Wie entstehen die Ideen für deine Bücher? Und woher weißt du, dass es eine gute Geschichte wird?
K: Die Geschichte kommt immer relativ spät. Ich weiß bestimmte Themen, mit denen ich mich gerade beschäftige. Jedes Buch ist eine Wahrheitssuche, ohne die Hoffnung auf Antworten. Aber vielleicht kriegt man ein paar bessere Fragen zustande und versucht, sich über diese Fragen dem zu nähern, über das man nachdenkt. Von diesen Themen aus fange ich an, um mich herum zu sammeln.
Und das Zweite ist: Ich brauche den Schauplatz. Ich kann nicht einfach so wahllos sagen, ach ja, ich lasse das mal irgendwo in dieser Stadt oder an jenem Ferienort spielen. Ich muss immer genau wissen, wie es da aussieht, wie es da riecht, zu welcher Tages- und zu welcher Nachtzeit da was rumläuft und wächst und singt und zwitschert. Das ist ganz wichtig. Und in meinen Schauplatz kann ich dann die Figuren hineinsetzen und aus ihnen heraus die Handlung entwickeln.
B: Hast du Angst vor der weißen Seite?
K: Natürlich. Angst vor der weißen Seite ist mein zweiter Name. Aber das Gute ist: Ich schreibe am Computer, da ist es dann auch nicht so weiß, sondern hat so einen angenehmen Grau-Stich. Es ist eher der Anfang, der mir schwerfällt. Weil du in den ersten Seiten den Ton, also den Sound des Romans setzt. Wenn der sitzt, dann kannst du den auch nicht mehr verändern. Das ist schon etwas, womit ich sehr vorsichtig sein muss.
Aber meine Recherchen dauern immer wahnsinnig lange, sodass ich am Ende auch rastlos bin und unruhig und wirklich sehr mit den Hufen scharre, um endlich mit dem Schreiben anzufangen. Oft gehen dann die ersten Seiten wirklich auch sehr flüssig, so, als ob ich den Sound doch schon gehört hätte.
Es ist für mich wichtig, dass ich nicht zu früh anfange, dass ich lange genug warte, bis ich wirklich weiß, jetzt ist der Druck so hoch, dass ich auch nicht nach kurzer Zeit wieder aufhöre. Das ist eine freudige Erwartung und Unruhe. Wenn die in einem solchen Maß gesteigert ist, dass meine Umgebung sagt „Jetzt setz dich mal hin und mach mal! Du bist ja unerträglich!“, dann ist der richtige Zeitpunkt.
B: Was war bei „Flusslinien“ der Rechercheanlass? Die Gärtnerin Else Hoffa?
K: Ja, vor allem die Gärtnerin – und der Römische Garten, von dem ich beim Denkmalschutzamt schöne, alte Fotos gefunden habe, auf denen man sehen kann, wie er früher aussah. Ich habe über die Gärtnerin sehr viel recherchiert. Dafür musste ich nach London ins Warburg-Archiv, habe da in Briefen gewühlt und versucht, aus der Mini-Sütterlin-Schrift irgendwelche einzelnen Sätze zu Else Hoffa zu extrahieren. Manchmal hat es mich Stunden gekostet hat, um dann rauszufinden, dass da steht: „Hoffi geht’s gut.“
Aber manchmal waren auch großartige Funde dabei, auf die ich wirklich stolz bin, und auf die ich dann die Romanhandlung stützen konnte. Ich war hier im Staatsarchiv und habe mir die Entschädigungsakten von Else Hoffa geben lassen. Die hat sicher noch nie jemand angeguckt. Als Halbjüdin hat sie gegen die Stadt und gegen das Deutsche Reich geklagt, um eine Entschädigungsrente zu beantragen. Und da habe ich sehr viel – auch über ihren ganzen Lebenslauf – herausgefunden. Das war sehr spannend. Auch zeitintensiv, aber absolut bereichernd.
B: Woher kam die Idee?
K: Ich wollte unbedingt ein Buch im Römischen Garten spielen lassen, zumindest teilweise. Weil ich daran auf meinen täglichen Elbspaziergängen oft vorbeikomme. Ich finde den Ort geradezu magisch – mit diesem Naturtheater, in das man reinguckt. Man kann nicht mit Sicherheit sagen, ob es nicht in Wahrheit doch ein Ufo-Landeplatz ist. Und ich finde, der Ort ist relativ still, also einen Hauch zu unspektakulär, um ein riesiger Tourismusmagnet zu sein. Und deswegen gibt es da oben manchmal nur ein paar leere Flaschen von Partys in der Nacht zuvor. Was ich aber eigentlich ganz schön finde. Ansonsten ist es recht still dort. Ich habe dann angefangen, über den Garten zu recherchieren und kam schnell auf Else Hoffa.
Der satte Klang.
B: Unser Thema ist Zuversicht. Entstanden aus der Wahrnehmung von Müdigkeit und Erschöpfung um mich herum. Von Green Fatigue, viel Frustration durch so viele Krisen – es ist andauernd etwas los in der Welt, was man nicht mehr nachvollziehen kann. Margrit, eine deiner Hauptfiguren und eine sehr sympathische alte Dame, ist 102 Jahre alt. Findest du es erstrebenswert, so alt zu werden? Ist das deine Vision?
K: Ich halte Margrit für eine fast utopische Figur. Weil sie in ihrem hohen Alter, mit ihrer unfassbaren Lebenserfahrung noch so viel Liebe empfindet und Interesse an den Menschen um sie herum hat. Aber es ist ihr bewusst, dass ihre Zukunft quasi aufgebraucht ist und dass sie auf eine sehr, sehr lange Vergangenheit zurückschaut. Dass sie im Prinzip nur noch aus Geschichten und Geschichte besteht und sie in die Zukunft kaum noch blicken muss.
Dein Thema – Zuversicht – heißt ja, dass man in die Zukunft schaut, also dass man auf etwas sieht, nach vorne. Und obwohl Margrit kaum noch nach vorn schaut, ist sie trotzdem eine der zuversichtlichsten Personen dieses Romans, vielleicht ja eben aus dem Grund. Vielleicht ist Alter und Zuversicht manchmal einfacher als Jungsein und Zuversicht.
B: Und wo holst du die Zuversicht her?
K: Kant sprach sogar von einer Pflicht zur Zuversicht. Zuversicht ist schon etwas, was in uns drinsteckt, aber es ist etwas Aktives. Für mich ist Zuversicht wahrlich nicht dasselbe wie Optimismus. Zuversicht ist differenzierter: Dass man versucht, mit den Gegebenheiten, die da sind, aktiv in irgendeiner Weise klarzukommen – ohne die Flinte ins Korn zu werfen. Das hat aber nichts mit diesem infantilen „Alles-wird-gut“-Positivismus“ zu tun, der mir unfassbar auf die Nerven geht.
B: Die Dinge zu nehmen, wie sie sind, damit zu hantieren, das Beste daraus zu machen und sie weiterzuentwickeln ist das Schwierigste überhaupt. Woher weißt du, dass dein Text „sitzt“, dass er gut ist? Bauchgefühl?
K: Das ist nicht nur ein Bauchgefühl. Ich glaube, dass es da ganz objektive Kriterien gibt, ob ein Satz gelungen ist oder nicht. Ob ein Bild „sitzt“ oder ob es eine Pointe gibt.
Es ist ein bisschen wie ein Geräusch: Wenn du Tennis spielst und den Ball genau an der richtigen Stelle des Schlägers triffst, dann gibt es so einen sehr befriedigenden, satten Klang. Oder wenn du singst und du weißt, du hast die Töne genau auf die richtige Weise getroffen, dein Zwerchfell ist beteiligt, deine Stimme schwingt und nichts sitzt fest, dann weißt du das auch sofort. Das ist mehr als ein Gefühl. Es ist ein Wissen um deinen Körper. Und Wissen um den Klang, den du damit erzeugen kannst, und das Gefühl, dass es gesund und richtig ist.
So ist es beim Schreiben letztlich auch. Das hat was mit dem Klang zu tun. Auch mit deinem Körper, mit deinem Atem. Ja, es hat durchaus etwas Körperliches, wie beim Tennis oder beim Singen.
B: Und wenn der Klang „sitzt“: Ziehst du dann daraus deine Motivation, um weiterzuschreiben oder das nächste Projekt anzugehen?
K: Es ist weniger die Freude an meinem eigenen Können als ein Leidensdruck, wenn du ein neues Buch beginnst. Weil es Themen gibt, bei denen du versuchst, mehr darüber zu erfahren. Oder bei denen du versuchst, ihnen schreibend und fühlend und denkend nahezukommen. Schreiben ist ja so eine Mischung aus allem, aus Fühlen und Denken. Alle Sinnesorgane sind daran beteiligt, wenn du dich Themen oder Dingen auf diese Weise nähern willst.
Eigentlich ist eine Geschichte immer ein bisschen wie ein Spiegel, mit dem man versuchen kann, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Also so wie jener griechische Held, ich glaube es war Perseus, der die Medusa nur besiegen konnte, indem er in den Spiegel guckend es geschafft hat, sie zu erschlagen. Wenn er sie direkt angeguckt hätte, wäre er zu Stein geworden.
So funktioniert für mich das Schreiben, so funktioniert für mich die Geschichte. Nur durch den Spiegel einer Erzählung, nur durch den Spiegel einer Geschichte kann ich den Ungeheuerlichkeiten des Seins ins Auge gucken, ohne zu versteinern. Ab und zu muss ich aber auch trotzdem mal versteinern. (Sie grinst.)
Neugierde. Disziplin. Und das Gegen-den-Tod-Anschreiben.
B: Und was sagen deine Kinder dazu, wenn du so wegtauchst in das Schreiben?
K: Ach, so schlimm ist das gar nicht. Das ist alles nicht sehr romantisch. Wenn ich abtauche, dann tauche ich auch wieder auf. Als meine Kinder noch zu Hause lebten, war meine Zeit ja fremdbestimmt: Wenn sie in der Schule waren, dann schrieb ich. Wenn sie nach Hause kamen, habe ich gekocht, ging in die Sandkiste oder machte, was man so machen musste.
Es ist allerdings immer ganz schön, wenn ich ganz am Anfang Zeit am Stück habe. Früher musste mein Mann dann die Kinder nehmen und mit denen mal eine Woche oder zwei verschwinden, damit ich ins Rollen komme. Und wenn ein Text einmal ins Rollen gekommen ist, dann kann er auch ganz gut weiterrollen – auch wenn meine Zeit durch äußere Umstände strukturiert wird. Das geht.
Ein bisschen Disziplin braucht man aber schon. Du kannst nicht denken, ich warte mal, bis die Muse kommt, aber vorher gehe ich noch eben einkaufen oder so. Die Muse muss schon wissen, wo sie dich findet. Das heißt, du musst an deinem Schreibtisch sitzen. Es ist nicht so, dass du gerade bei Budni bist und deine Taschen fallen lässt und sagst: „Ah, die Inspiration (möglichst in Form einer weißen Taube) ist auf mich herabgeflattert! Und jetzt gehe ich schnell nach Hause und schreibe Seite um Seite um Seite.“ Du musst schon auch da sitzen und den Computer anschalten und einfach mal anfangen. Ob es dann hinterher was taugt, kannst du immer noch gucken.
B: Es ist also einfach Arbeit, Disziplin und ein gutes Stück Routine?
K: Ja, gar nicht glamourös. Leider. Und es hat auch etwas mit Druck zu tun.
B: Machst du dir den Druck selbst oder wo entsteht der?
K: Was heißt „machen“? Also ich glaube, der kommt von allein, so wie Leidensdruck, aber auch wie Wissensdurst. Das ist ja auch eine Form von Druck. Also eine Neugierde, eine Notwendigkeit. Ich glaube, dass ich kein Buch schreiben kann, weil ich denke: „Ach Gott, heute habe ich mal Zeit, schreibe ich doch ein Buch.“ Zumindest bei mir ist es so. Ich brauche eine innere Notwendigkeit, warum ich das mache. Ja, es ist Arbeit und Qual und Leid. Aber ich will auch keine Bücher lesen, die nicht notwendig sind. Und ich will keine schreiben, die nicht notwendig sind. Dafür ist mir meine Zeit zu schade – und die Zeit der Leser:innen.
B: Welche „Notwendigkeit“ war das bei „Flusslinien“?
K: Mehrere Sachen. Ich wollte unter anderem was übers Alter schreiben und was über die Liebe.
B: Ist das ein Liebesroman?
K: Vielleicht nicht, aber er ist gespeist von Liebe. Liebe in vielen verschiedenen Facetten. Es ist natürlich auch ein Roman über die Erinnerung und über den Tod. Aber ich habe sowieso immer das Gefühl, dass wir gegen den Tod anschreiben und dass das auch ein Motivator für alle Kunstschaffenden ist. Einfach das Bewusstsein der Vergänglichkeit und dass du dann nochmal – ja, das ist ja auch wieder Zuversicht – ein Buch schreibst. Oder noch ein Apfelbäumchen pflanzt. Oder noch eine Geschichte erzählst. „Komm, noch eine…“, so wie in „1001 Nacht“: Komm, noch eine Geschichte, noch eine Geschichte. Morgen wartet der Tod. Komm, eine noch. Und noch eine.
B: Es ist ein Traum, wenn man es schafft, Bücher oder Geschichten so zu erzählen, dass Menschen unbedingt dabeibleiben wollen, wissen wollen, wie es ausgeht. Denkst du deine Geschichten vom Ende her?
K: Ja. Ich kenne mein Ende. Ich bin nie überrascht vom Ende. Ich weiß mein Ende, ich weiß aber nicht so genau, wie man hinkommt. Das ist so ein bisschen wie: Du siehst den Leuchtturm von Wittenbergen da hinten, aber du musst den Weg finden. Na ja, gut, da ist es jetzt hier einfach geradeaus. Sagen wir also: den Fernsehturm. Und dann musst du schreibend den Weg dahin finden – und beim Schreiben passiert dann aber trotzdem noch viel. Aber außer dem Ende habe ich vorher auch eine gar nicht mal so grobe Struktur. Manchmal wird die Struktur schreibend nochmal verändert oder vom Erzählfluss überschwemmt. Dafür bin ich offen. Es ist eben kein Stahlgerüst. Aber es gibt schon ein Gerüst, an dem ich mich orientieren kann, und an dem ich letztlich auch meine Bilder aufhängen kann.
Sprache ist ja im Gegensatz zur Musik oder zur Bildhauerei extrem linear. Ich kann nur ein Wort hinter das andere, nur einen Buchstaben hinter den anderen setzen. Aber unsere Wirklichkeit ist ja simultan und alles passiert auf einmal. Ich kann hören und riechen und schmecken und sehen – alles zur selben Zeit. Das kriege ich mit Sprache nicht hin. Ich sage: „hören und sehen und schmecken.“ Dabei habe ich aber schon Zeit verbraucht. Es ist nicht mehr simultan.
Für mich ist es so, dass ich diese Linearität durch eine dritte Dimension erweitere, indem ich Bilder entwerfe. Und die muss ich ja irgendwo aufhängen. Das ist wie ein Netz aus Bildern, das ich versuche, aufzuspannen. Wenn zum Beispiel eine Figur in einem Roman am Ende im Kieswerk verschüttet wird, dann habe ich schon auf der ersten Seite Sand. Dann kann ich diese Bilder von Sand und vom Verschütten und von Erinnerungen und allem, was in diesem Netz verknüpft wird, aufhängen. So versuche ich, der Zweidimensionalität von Sprache ein Schnippchen zu schlagen.
B: Werden deine Figuren lebendig beim Schreiben?
K: Manche Autoren leben richtig mit ihren Figuren, die ein geradezu unabhängiges Leben führen. Ich habe eher das Gefühl, dass ich vielleicht wie eine Schauspielerin arbeite, die sich so in diese Figuren hineinversetzt, dass sie dann auch anfängt, so zu denken wie sie. Aber ich habe dann nicht das Gefühl von „Huch?!“, sondern eher von „Ja, klar!“.
„Ich habe aber noch eine Geschichte...“
B: Wir waren bei Zuversicht und Motivation, die aus Neugier und Wissbegierde entstehen. Und dem Umgang mit den Dingen, wie sie nun mal sind, um daraus das Beste zu machen. Kannst du dir vorstellen, dass du nicht Schriftstellerin geworden wärst?
K: Ja, eigentlich schon. Ich war ja schon auf einem anderen Weg: Ich hatte meine Habilitationsschrift angefangen und hätte auch Literaturwissenschaftlerin werden können. Mein Leben hätte ich so oder so der Literatur gewidmet. Literatur zu öffnen ist ja auch ein kreativer Prozess, zum Beispiel ein sprödes, sich verschließendes Gedicht plötzlich aufzubrechen und leuchten zu lassen. Das ist beglückend. Ich war gerne Dozentin für Literatur.
Aber als ich klein war, wollte ich auf jeden Fall Schriftstellerin werden, ich habe schon ganz früh Gedichte geschrieben. Und mit 18 hatte ich eigentlich das Gefühl, ich bin es längst (sie lacht). Auch mein gottlob verschollener Fantasy-Roman, den ich mit 16 geschrieben habe, war für mich ein klares Indiz, dass ich eigentlich längst schon Schriftstellerin bin. Dann habe ich Literatur studiert und war irgendwie erschüttert davon, dass es schon alles gibt und dass andere Menschen tatsächlich auch Gefühle haben, nicht nur ich. Shocking.
Später kamen aber – in meinem wahren Leben außerhalb der Uni – mehrere Sachen zusammen, die mich plötzlich dazu gebracht haben, zu sagen: Ich habe aber doch noch eine Geschichte und die will ich gerne lesen, aber es gibt sie nicht zu kaufen. Also muss ich sie selber machen. Das wurde dann der Roman „Der Geschmack von Apfelkernen“.
Aber ich denke manchmal darüber nach, ob das nicht letztlich ein Zufall war. Es gibt ja die Geschichten von J. K. Rowling, dass sie ihr Manuskript an – sagen wir mal – 110 Verlage geschickt hat, und alle haben Nein gesagt. Und erst der 111. hat es schließlich veröffentlicht. Ich weiß nicht, ob ich das gekonnt hätte. Wenn mir 5 gute Verlage gesagt hätten, „Nö, du hast es nicht drauf“, weiß ich nicht, ob ich die Kraft gehabt hätte, zu sagen: „Doch, doch, ich weiß es besser und ich habe es drauf.“ Was also wäre gewesen, wenn vielleicht der 6. Ja gesagt hätte, ich aber nach dem 5. schon aufgegeben hätte?
Aber das sind Schicksalsdinge, auf die man nicht so viel Einfluss hat. Vielleicht hat auch das etwas mit Zuversicht zu tun. Zuversicht ist also eine Gewissheit, dass irgendwas wird. Ich glaube auch gar nicht so sehr, dass man unbedingt das Beste aus allem machen muss. Sondern, dass du eben versuchst, mit den Dingen, die du hast, irgendwie klarzukommen oder weiterzuarbeiten. Und vielleicht nicht nur zu hoffen, sondern auch zu glauben, dass es eine Möglichkeit gibt, um heil aus etwas herauszukommen. Ich finde, Zuversicht ist auch Arbeit.
„Ich musste es einmal versuchen. Einmal.“
B: Deine Geschichte, die du gerade erzählst, macht ja an sich schon Mut, macht zuversichtlich…
K: Ich kann Leute nur ermutigen, die Dinge wirklich zu machen. Träume sind wichtig, und man sollte sie immer haben. Aber man darf sich auch trauen, mal zu fragen: „Was wäre, wenn ich versuchen würde, diesen Traum Realität werden zu lassen? Fühle ich mich wohl beim Träumen oder fehlt mir was dabei? Möchte ich vielleicht doch mehr haben als nur diesen Traum?“
B: Was, wenn es doch klappt…?
K: Genau. Ich habe damals niemandem davon erzählt, als ich an dem ersten Buch schrieb. Wenn man in Deutschland kleine Kinder hat, fragt einen sowieso niemand, was man macht. Insofern musste ich das auch nicht groß verheimlichen. Aber ich dachte, wenn es nicht klappt, dann mache ich was anderes. Das ist ja auch nicht so schlimm. Aber ich musste es einmal versuchen. Einmal.
B: Meine allerletzte Frage, die ich allen meinen Kaffee-Trinkern hier stelle: Was war der beste Fehler, den du je gemacht hast?
K: Da muss ich jetzt wirklich nachdenken. Ich glaube, der beste Fehler – oder die beste Niederlage, die ich je hatte, – war, dass ich den Aufnahmetest zur Henri-Nannen-Schule nicht geschafft habe.
B: Sonst wärst du Journalistin geworden.
K: Ja, und ich wäre so eine schlechte Journalistin geworden, weil ich es überhaupt nicht mag, fremde Menschen anzurufen. Aber 90 Prozent des journalistischen Daseins bestehen darin, fremde Menschen anzurufen. Ich hätte es nie gekonnt. Und nie gemacht. Da ist es viel leichter, sich etwas auszudenken.
B: Wie gut – für uns alle.